Zur Arbeit mit dem Angst-Schrei-Reflex Im Laufe meiner Arbeit mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen an einer Schule für Erziehungshilfe lernte ich durch meine Beschäftigung mit den neurophysiologischen Hintergründen von kindlichen Entwicklungsstörungen die Arbeit von Sally Goddard und Peter Blythe kennen. Diese hatten in England schon 1969 begonnen den Zusammenhang zwischen der Bewegungsentwicklung, der Bildung und Hemmung frühkindlicher Reflexe in der Schwangerschaft, während der Geburt und in den ersten Lebensjahren und der neurophysiologischen Entwicklung von Kindern zu erforschen. Ich untersuchte daraufhin ca. 150 Kindern und Jugendliche auf noch vorhandene frühkindliche Reflexe und konnte bei fast 95% der verhaltensauffälligen Schulkinder einen noch vorhandenen Moro-Reflex (Angst-Schrei-Reflex) feststellen. In vielen Fällen ließ sich durch Stimulierung dieses Reflexes, der normalerweise schon im Laufe des ersten Lebensjahres zugunsten erwachsener Reflexreaktionen gehemmt wird, durch mechanische Wiederholung in Form einer täglichen Körperübung über ca. 1 Jahr eine deutliche Nachentwicklung des Sozial- und Lernverhaltens und eine allgemeine seelischen Stabilisierung erreichen. Erste deutliche therapeutische Erfolge traten häufig schon nach 6 Wochen mechanischen Übens auf. Als Körperpsychotherapeutin beobachtete ich häufig auftretende starke seelische Entladungen früher vorsprachlicher Erlebnisse und übertrug die mechanischen Körperübungen auf ein körperpsychotherapeutisches Setting und die psychotherapeutische Arbeit mit Erwachsenen. Dabei beobachtete ich, dass die mit einer Tiefenatmung verbundene Stimulierung eines frühkindlichen Reflexes bei Erwachsenen die Körpererinnerungen und seelische Erlebnisse aus der Zeit seines vorgeburtlichen Entstehens bis zu seiner nachgeburtlichen Hemmung aufrufen kann. Sie sind deshalb für die Verarbeitung früher vorsprachlicher Erlebnisse von besonderer Bedeutung. Was sind frühkindliche Reflexe? Die frühesten bisher beobachteten Reflexe bilden sich 5 bis 7 Wochen nach der Empfängnis. Dieser früheste Ausdruck taktilen Bewusstseins beim Embryo besteht aus einer schnellen, amöbenartigen Rückzugsbewegung des gesamten Organismus auf eine taktile Reizung seiner Mundgegend hin. Diese ersten so genannten Rückzugsreflexe bilden sich intrauterin und werden intrauterin von den eigentlichen frühkindlichen Reflexen abgelöst, die ab der 9. intrauterinen Lebenswoche bis ca. zwei Monate nach der Geburt wichtige Überlebensfunktionen des Fötus und des Babys nach der Geburt sichern. Die frühkindlichen Reflexe werden im Laufe des 1. Lebensjahres von erwachsenen Halte- und Stellreflexen abgelöst. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei dem Moro-Reflex zu, da er nicht nur den frühesten Bewegungsausdruck von Angst darstellt, sondern auch die erste Reaktion auf eine Gefahr ist und durch die Initialisierung des Schreiens mit der Ausatmung dem Baby die Möglichkeit gibt auf sich aufmerksam zu machen. Außerdem kommt dem Moro-Reflex eine besondere Bedeutung beim Geburtsvorgang zu, da er den ersten Atemzug nach der Geburt ermöglicht und die Luftröhre öffnet. Im Mutterleib hat er wahrscheinlich einen wesentlichen Anteil bei der Entwicklung des Atemmechanismus, den frühesten atemähnlichen Bewegungen im Mutterleib. Der Moro-Reflex entsteht in der 9. Schwangerschaftswoche und ist in der Regel bei der Geburt vollständig vorhanden. Er wird im 2.-4. Lebensmonat gehemmt. Auslöser des Moro-Reflexes sind: Plötzliche, unerwartete Reize jeglicher Art; Stimulation der Gleichgewichtsorgane im Innenohr durch Änderung der Kopfhaltung, Geräusche, plötzliche Bewegungen, plötzlicher Lichtwechsel im Gesichtsfeld, Schmerz, Temperaturänderungen oder unsanfte Berührungen. Die Moro-Reflex-Reaktion umfasst eine Reihe von schnellen Bewegungen: Zunächst werden die Arme und Beine in einer plötzlichen symmetrischen Aufwärtsbewegung vom Körper weg bewegt, wobei sich die Händchen öffnen und eine heftige Einatmung erfolgt. Nach einem kurzen Erstarren werden die Ärmchen und Beinchen mit der Ausatmung an den Leib zurückgezogen und in eine Art Umklammerungshaltung gebracht (Moro 1918). Die Ausatmung wird meistens von einem Schrei begleitet. Mit dem Moro-Reflex treten folgende Begleiterscheinungen auf: Unmittelbare Erregung mit schnellem Einatmen, kurzes Erstarren oder Aufschrecken gefolgt von Ausatmen, oft begleitet von einem Schrei. Aktivierung der Kampf- oder Fluchtbereitschaft des sympathischen Nervensystems: Freisetzen der Stresshormone Cortisol und Adrenalin, Anstieg der Atemfrequenz besonders in den oberen Lungenflügeln eventuell bis zur Hyperventilation, Beschleunigung des Herzschlages, Anstieg des Blutdrucks, Rötung der Haut. Der Moro-Reflex ist eine unwillkürliche Reaktion auf eine Bedrohung und wird unmittelbar, ohne Kontrollmöglichkeit vom Hirnstamm ausgelöst. Bei gesunden Erwachsenen kann er in Situationen extremer Gefahr auch später noch ausgelöst werden. Die gesunde erwachsene Schreckreaktion besteht aus einer schnellen Anspannung der Körpermuskulatur, dem Hochziehen der Schultern, gefolgt von einer Drehung des Kopfes in Richtung der Störquelle und einer bewussten (von der Kortex gesteuerten) Analyse der Situation. Kinder und Erwachsene, bei denen der Moro-Reflex nach dem 1. Lebensjahr noch nicht gehemmt ist, reagieren auf unbekannte, überraschende Sinneswahrnehmungen und Situationen mit einer ständigen „Alarmbereitschaft“. Sie stehen seelisch und körperlich ständig an der Schwelle zu einer Kampf- und Fluchtreaktion und leiden unter einer erhöhten Reaktionsbereitschaft und Sensibilität (Stresshormone). Dadurch sind sie einerseits sehr aufnahmefähig, phantasievoll und einfallsreich, andererseits neigen sie zu Überreaktionen und unreifen Verhaltensweisen. Sie reagieren deshalb entweder mit übermäßigem Rückzug und Ängstlichkeit oder aggressiv und hyperaktiv. Die bei ihnen oft ausgeprägten Versuche Situationen zu kontrollieren und zu manipulieren entspringen dem Bedürfnis die Kontrolle über die eigenen überschießenden Reaktionen zu erhalten. Durch die ständige Aktivierung von Adrenalin und Cortisol stehen diese dem Körper nicht mehr ausreichen als Abwehrstoffe gegen Allergien und Infektionen zur Verfügung. Dadurch entsteht hier eine erhöhte Anfälligkeit für Erkältungen, Asthma, Ekzeme, Allergien, auch Lebensmittelallergien, sowie Stimmungs- und Leistungsschwankungen, mangelndes Durchhaltevermögen. Als Langzeitwirkungen können auftreten: Gleichgewichtsprobleme, Koordinationsprobleme, Reiseübelkeit, körperliche und seelische Furchtsamkeit, Probleme mit der visuellen Wahrnehmung (Augensegment), verstärkter Muskeltonus (Körperpanzer), Ablenkbarkeit zur Peripherie eines Gegenstandes hin, übermäßige Ermüdung im Wechsel mit Hyperaktivität, Gefühle der Unsicherheit, Abhängigkeit und geringes Selbstwertgefühl. Die Entwicklung von menschlichem Schreckverhalten vollzieht sich in drei Phasen:
Die körperpsychotherapeutische Arbeit mit der Moro-Reflex-Bewegung ermöglicht die Exploration vorgeburtlicher und vor allem geburtlicher Gefühle und Erinnerungen. Die dabei ausgelösten, zum Teil heftigen Reaktionen, erfordern eine genaue Kenntnis der Reichanischen Segmentelehre, vor allem der Arbeit mit dem Augensegment (Stirnbandähnliche Muskelgruppe des somatosensorischen Kortex, der Gehirnregion, die taktile Informationen, Hitze, Kälte, Druck, Schmerz und die Position des eigenen Körpers empfängt, durch Augenbewegungen und äußeren Druck aktivierbar). Die körperpsychotherapeutische Arbeit folgt hier in der Regel der neurophysiologischen Bewegungsentwicklung des Kindes: Zephalo-kaudal (vom Kopf zum Fuß) und proximo-distal (von innen nach außen). Bei schweren Schocks, z.B. missglückten Abtreibungsversuchen, Geburt unter extrem lebensbedrohlichen Umständen, sexuellem Missbrauch vor dem 3. Lebensjahr, können wesentliche Ichanteile und Empfindungen als außerhalb des Körpers befindlich erlebt werden. In diesen Fällen kann mit der klassischen körpertherapeutischen Arbeit erst begonnen werden, wenn vorher mit dem Umkreis der Person, mit der „Instroke“-Bewegung des energetischen Feldes gearbeitet wurde. In diesen Fällen treten erstaunlich oft auch schwere Traumata der vorgeburtlichen Zeit zu Tage. Dies liegt wahrscheinlich daran, dass das noch nicht entwickelte Nervensystem des Embryos der Wucht des Erlebnisses in keiner Weise gewachsen ist, diese aber auch nicht in seinem Muskelsystem abpanzern kann. Die Seele wird wahrscheinlich in diesen Fällen zum Teil aus dem Körper in den Umkreis „hinausgeschockt“ und bleibt nur lose mit dem Leib und seinem Zellgedächtnis verbunden. Erst, wenn die Gefühle der Angst und des Entsetzens wieder zum Körper zurückgebracht werden können, kann hier mit der körperpsychotherapeutischen Arbeit und der Arbeit mit den frühkindlichen Reflexen begonnen werden. Regula Rickert im April 2002 für das Seminar auf dem Internationalen Congress für Embryologie, Therapie und Gesellschaft in Nijmegen (Holland im Mai 2002). |