Kulturinitiative – Aufruf zu Identitäts- und Gemeinschaftsbildung

Du musst dein Leben ändern. So lautet der Titel von Peter Sloterdijks neuem Buch zur europäischen Philosophie- und Kulturgeschichte. Es enthält eine Fülle von bahnbrechenden, systemisch orientierten Gedanken über den Mensch und sein Eingebundensein in gesellschaftliche und kulturelle Gruppen. Sloterdijks Werk scheint mir für die Kunst, die Kultur und für die Gesellschaftsentwicklung von besonderer Bedeutung zu sein, u. a. weil es eine wesentlicher Erkenntnis der Neuropsychologie aus philosophischer Sicht bestätigt: Die Tatsache, dass Kultur- und Kunstschaffen einen Gesundungsprozess im Menschen anstoßen kann, der erst durch regelmäßige Pflege im Alltag dauerhaft wird.
Für die Praxis heißt dies, dass wir Nachhaltigkeit in kulturellen und therapeutischen Entwicklungsprozessen nur erreichen, wenn Menschen langfristig ihre Lebensgewohnheiten in Richtung einer resilienten Lebensweise ändern. (siehe auch L. Reddemann 2008) Unter Resilienz versteht man das Vorhandensein von seelischer Widerstandskraft und von Durchhaltevermögen angesichts scheinbar unlösbarer Probleme. Wer schweren Verrat, große Lieblosigkeit oder andere traumatische Erfahrungen gemacht hat, ist auf tröstende Erlebnisse angewiesen. In einer zunehmend rauer werdenden Gesellschaft stößt man den Schwachen lieblos und hartherzig ab, behandelt ihn wie eine Marionette und programmiert sein weiteres Scheitern damit vor.
In der Geschichte finden sich immer wieder Persönlichkeiten, die mit Hilfe ihrer Kreativität und ihrer Kunst extremes Leid überlebt und bewältigt haben, ja ihrem Leben auf diese Weise einen neuen Sinn gegeben haben. Im kreativen Ausdruck findet der Mensch seine Sprache des Herzens, in der das Leiden anerkannt oder transformiert werden kann. Aktive Handlungen und Vorstellungen, die mit Freude und Liebe verbunden sind, machen Stress und Leid erträglich. Im kreativen Ausdruck, beim Malen, Tanzen, Singen und Musizieren entwickeln sich „flow“-Erlebnisse (Mihaly Csikszentmihalyi 1999), das Gefühl ganz in einer Sache aufzugehen und dabei glücklich zu sein. Im Gehirn wird dabei Dopamin ausgeschüttet, Motivation entsteht. Der sich entwickelnde Regelkreis führt zu weiteren kreativen Handlungen, zur Vertiefung des Glücksgefühls und zu einem Gefühl des lebendig-körperlichen Fließens.
Wie finden wir also im Angesicht der hohen äußeren Anforderungen, die das Leben an uns stellt, die innere Haltung, die uns zu kreativ Übenden macht, egal ob wir den Haushalt führen, als Manager arbeiten oder tanzen? 

Warum der Mensch üben muss

Kunstschaffen entsprang in seiner frühesten Ausprägung dem Bedürfnis des Menschen mit den ihm als höher oder unberechenbar erscheinenden Mächten umzugehen. Je unbekannter und abstrakter die Gefahr, die aus der Umwelt droht, desto transzendenter steht sie dem Menschen gegenüber. Alle lebenden Systeme müssen in einer ersten Entwicklungsstufe auf die Begegnung mit potentiell todbringenden Invasions- und Irritationskräften gefasst sein. Daher kommen auch die diffusen Ängste, die dem Menschsein manchmal anhaften. Zu ihrer Bewältigung ist ein Zug ins Offene notwendig, in die Konflikt- und Überraschungsräume der Umweltgegebenheiten. Diesen Zug ins Offene vollzieht der Kreative, wenn er oder sie ihr Werk schafft. Der Mensch muss diesem offenen Raum mit seinen inneren Überschüssen entgegengehen. Überschüsse haben wir, wenn wir Zeit zum Lernen, für das Wohlbefinden, besonders aber in guten Beziehungen haben durften.
Kunst und Beziehungskultur dient als immunologische Praktik zur vorwegnehmenden oder nachträglichen Verletzungsverarbeitung, nicht nur zur Abwehr konkreter Gefahren, sondern auch zur Abwehr der schicksalhaften Tatsache des zukünftigen eigenen Sterbens. Angesichts des Todes erlebt sich der Mensch am deutlichsten in die Passivität gedrängt. Wir tun ja meistens so als würde das, was jetzt ist, immer so weitergehen. In der Imagination symbolisieren wir die Gefahr und nehmen sie vorweg. Wir bauen dadurch eine emotionale und mentale Rüstung auf, die uns vor überfordernder Überflutung mit beängstigenden Gefühlen bewahrt. Dies tun wir ständig, gesellschaftlich und privat, auch, wenn wir an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen und mit Freunden sprechen. Die Kunst hilft uns bei der Aufrechterhaltung des „schönen Scheins“, vergewissert und aktualisiert uns im Guten, Wahren und Schönen.
Als mit sich selbst ringender Mensch, als ethischer Mensch musste der Künstler der vergangenen Jahrhunderte seinem Leben mit den darin enthaltenen Überschüssen und Gefährdungen eine symbolische Form geben, die eine übende Komponente in sich trägt. Er unterlag damit wie im Grunde jeder Mensch einer inneren vertikalen Spannung zwischen seinen tatsächlichen Leistungen (seinem Status) und seinen Idealen (Metaidolen) mit der Verwirklichung zukünftiger Werke.

 

Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt

Darin die Augenäpfel reiften. Aber

Sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,

in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,


 

sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug

der Brust dich blenden, und im leisen Drehen

der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen

zu jener Mitte, die die Zeugung trug.


 

Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz

unter der Schultern durchsichtigem Schurz

und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;


 

und bräche nicht aus allen seinen Rändern

aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,

die dich nicht sieht. 

                    Du musst Dein Leben ändern.

Dieses Gedicht vom Archäischen Torso Apollos von Rainer Maria Rilke (1908) thematisiert, was Sloterdijk unter Vertikalspannung versteht. „…..denn da ist keine Stelle, die Dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Das Gedicht ist für Sloterdijk „ein Experiment über das Sich-etwas-sagen-lassen“.
Rilke war im Jahre 1905 und 1906 Privatsekretär von Auguste Rodin und von dessen Kunstauffassung beeinflusst. Für Rodin sollten sich die Dinge selbst mit ihrer ganzen Autorität aussprechen. Rilke schreibt über Rodins Skulpturen: „Es gab Stellen ohne Ende, und keine, an der nicht etwas geschah.“ (Rilke Band 3, 2, Prosa S.359) Kunstgeschichtlich tritt an die Stelle der naturgetreuen Abbildung der alten Meister und ihrer Nachahmung von vorgegebenen Gestalterwartungen in der Moderne die Autorität des sich selbst aussprechenden Objekts, des sich selbst veröffentlichenden Körpers. Noch erinnert der Torso an die menschliche Gestalt, löst sich aber von ihr. Die Zeit der Formen bricht an, die an nichts mehr erinnern.
Das Phänomen des Von-oben-angesprochen-Werdens verkörpert sich im ästhetischen Gebilde in neuer Weise. Das Torso-Ding zeigt nicht nur einen erloschenen Gott. Rilke erlebt das Steingebilde als ein Göttliches, das seine sendungsmächtige Botschaft immer noch ausstrahlt. Er möchte, dass sich der Leser seines Gedichtes vom Torso angeschaut erlebt, während er ihn betrachtet, und unterstellt dass der Torso den Betrachter schärfer sieht als er selbst den Stein zu sehen vermag. Er legt dem Betrachter gleichsam hypothetisch die Ausführung einer inneren Geste nahe, die ihn dazu bringt sich als von etwas Höherem angeschaut zu erleben.
Das Objekt Stein wird zum wirkenden Subjekt, dem der Betrachter sich aussetzt, und erzeugt dadurch in ihm ästhetische Ergriffenheit. Den Stein als einen Sehenden auffassen heißt soviel wie an ihn als einen vital Wirkenden glauben, seine vitale Wirkkraft vorauszusetzen. Ästhetische Betrachtung kann also Vitalkräfte aktivieren.

Bei dem von Rilke besprochenen Torso handelt es sich um eine Darstellung des Apollo, dem Gestalt- und Oberflächengott, der aber hier eine haptisch fühlbare Verbindung mit dem drängenden und strömenden Prinzip des Dionysos eingeht. Unsere Wahrnehmung heute ist dagegen besetzt vom „Geschwätz der makellosen Körper“ (Sloterdijk).
Für das antike Griechenland war der mit dem Lorbeer gekrönte Athlet und die vollkommen ausgebildete Statue sowohl physisch als auch psychisch den Göttern gleich. Mit dem Neustart der Olympischen Spiele um 1900 entwickelte sich in unserer Kultur ein explodierender Sportkult und damit ein epochaler bis heute anhaltender Akzentwandel im Übungsverhalten. Das asketische Üben wird entspiritualisiert und zugleich resomatisiert (somatische Renaissance des Athletentums mit der Wende ins 20. Jahrh.). Im Altertum trainierte der Athlet zu Ehren Gottes, heute tut er dies um der persönlichen Leistung willen.

Identität ist aus Peter Sloterdijks Sicht das Resultat der permanenten bewussten und unbewussten Übungsprogramme des Einzelnen. Das Selbst wäre dann „ein Gewitter aus Wiederholungsreihen unter einem Schädeldach“, welches sich jede Nacht in seinen Träumen aktualisiert. (S.644) Mit sich selbst identisch ist, wer sich selbst fortlaufend aktualisiert, indem er sich bewusst seiner eigenen Vertikalspannung aussetzt. Die Übungskultur einer Gesellschaft entsteht aus der Notwendigkeit Natur und Kultur durch Praktiken der Erziehung, der Sitte und Gewohnheit zu verbinden und sie über Generationen weiterzugeben. Die spezifische mentale und physische Übungskultur versucht den sozialen und kosmischen Status des Einzelnen und der Gemeinschaft angesichts bestehender vager Lebensrisiken zu verbessern. Hieraus resultiert die Arbeit an sich selbst. In seinem Entwicklungsbedürfnis steht der Mensch kognitiv zwischen seinem Wissen und Unwissen, ökonomisch zwischen Fülle und Mangel, politisch zwischen Macht und Ohnmacht, religiös zwischen heilig und unheilig, moralisch zwischen gutwillig und böswillig, als Kämpfer zwischen tapfer und feige, als Übender zwischen Vollkommenheit und Unvollkommenheit.

In unserer aktuellen Kultur ist Bescheidenheit unmodern geworden. Der Drang nach immer mehr Besitztum und Geld erscheint den Vielen als die einzige Möglichkeit, veräußerlichten Lebenssinn, d. h. Vertikalspannung zu erleben. Religiöse und idealistische Lebenshaltungen haben sich weitgehend aufgelöst. Moralische Grundhaltungen und Regeln werden grundsätzlich in Frage gestellt und bilden keine sichere Grundlage mehr, auf der sich Kinder und Jugendliche entwickeln können. Grenzenlose Freiheit ist oft die einzige anerkannte Regel, auch wenn sie skrupellos auf Kosten der Anderen ausgelebt werden muss. Von den großen Wirtschaftsmanagern und Konzernen wird diese Haltung rücksichtslos vorgelebt. Aktuelle Kunst und Kreativität ist deshalb Vermarktungskunst geworden. Der zur Gewohnheit werdende Bruch mit vorangegangenen Kunst- und Gesellschaftsregeln radikalisiert die künstlerische Handlung und reduziert sie auf die Eventebene. Übungszyklen spielen keine oder nur noch eine untergeordnete Rolle. Nicht der Könner, sondern der Inszenierer wird als Künstler anerkannt. Wer andere zu künstlerischem Handeln veranlasst, schockiert und zum Nachdenken bringt, ist der neue Held. Ist das Streben des Menschen und seine Kreativität heute im Wesentlichen durch das Schaffen von Mengen und Größen geprägt? Wollen wir noch üben? 


Wie könnte eine moderne Übungskultur aussehen?

Zur inneren Aufrichtung des Menschen gehört das aufkeimendes Bewusstsein für das innere Gefälle zwischen der gegenwärtigen Ich-Person und ihrem höheren Ziel, sei es ein Traum, ein Kampf für etwas, dass errungen werden möchte, oder ein überpersönlicher ideeler Wert.
Das Geworfensein in eine Behinderung oder einen Schicksalsschlag kann zum Ausgangspunkt einer neuen umfassenden Selbstwahl und Willensschulung werden. Der lebenslang von schweren Migräneanfällen geplagte Friedrich Nietzsche sagt in Ecce homo: „Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund…“.
Zu den menschlichen Anstrengungsprogrammen gehört aber auch jede Lebensverneinung, der zur Gewohnheit gewordene Hochmut oder die Verachtung des Lebens, jede verneinende oder bejahende Moralvorstellung, jede Gewohnheitsreihe, auch die verwahrlosende Entkräftung und jedes formlose Dahintreiben. Letztlich kann der Mensch nicht nicht üben, denn auch ein schlechter Schüler zu sein will gelernt sein und setzt z. B. Verweigerungsanstrengung voraus. Das freigelassene Subjekt braucht das haltgebende Gerüst eines überpersönlichen Rahmens, um seiner wahnhaften Grenzenlosigkeit zu entkommen. Der erfolgreich Übende verankert sich jenseits seiner Gebrechen in seinen überpersönlichen Werten und wächst durch sein ausgerichtetes Tun über sich selbst hinaus. Für den Einzelnen geht es also darum sich bewusst für seine Anstrengungsprogramme zu entscheiden und sie in sein durch Gewohnheiten geprägtes Leben aufzunehmen.
Eine umfassende Kulturinitiative müsste der Gesellschaft Möglichkeiten zu gemeinschaftlichen Übungsprogrammen anbieten, wie dies z. Z. am intensivsten durch die Sportförderung und die Vermarktung von Sportveranstaltungen geschieht. Bei vielen Tageszeitungen füllt der Sportteil die größte Anzahl der bedruckten Seiten. Eine neue Übungskultur würde dem Kulturteil ein ebenso großes Gewicht einräumen. Unsere Kultur bietet ihren Bürgern auch eine Vielzahl von Musik- und Kulturveranstaltungen, erzieht sie aber eher zum passiven Genuss, nicht zur identitäts- und gemeinschaftsbildenden Eigenaktivität. Auf Passivität und Genuss ausgerichtete Übungsprogramme schwächen die Vitalität und Spannkraft des Menschen.
Vor allem die bildende Kunst besteht oft nur noch aus einer verhältnismäßig kleinen Zahl isolierter, künstlich in Szene gesetzter Kunstmarktdiener. Der Fetisch Kunstwerk wird von der breiten Bevölkerung ignoriert. Er verfällt damit in seinem Wert für die gesellschaftliche Gruppe. Der Kunstkult müsste aber den heraushebenden Ausnahmezustand nicht nur auslösen, sondern auch unter haltgebender Kontrolle halten können. Der Aufbau von möglichst vielen pseudowissenschaftlichen Ehrenämtern und Funktionen der Mitglieder und selbst ernannten Kunstbewertern kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Kunstszene orientierungslos vor sich hin dümpelt und der einzelne Künstler isoliert im Kampf um die Geldtöpfe meist nur noch nach der Inszenierung seiner Selbst giert. Wenn „alles nur ein Film“ ist, muss man sich nicht mehr anstrengen. Der von chronischer Disziplinlosigkeit und Verwilderung bedrohte Einzelne braucht seine Bindung an eine soziale Gruppe, und sei sie auch noch so schlecht oder zerstörerisch. Als ein Wesen, das im Gehege freiwilliger und unfreiwilliger Disziplinen lebt, braucht der Mensch eine „symbolische Ordnung“ (Jacques Lacan), zu der er sich zugehörig fühlen kann, und er braucht Ideen zur Eroberung des Unwahrscheinlichen.
Das explizite und implizite Übungsverhalten des Menschen im Verlauf der Jahrtausende zeigt, dass er in seiner Arbeit, seinen sozialen Interaktionen, ja in seinem gesamten tätigen Leben auf sich selbst einwirkt und an sich selbst ein Exempel statuiert. „Mensch sein heißt in einem operativ gekrümmten Raum existieren, in dem die Aktionen auf den Akteur, die Arbeiten auf den Arbeiter, die Kommunikationen auf den Kommunizierenden, die Gedanken auf den Denkenden, die Gefühle auf den Fühlenden zurückwirken. Alle diese Arten des Rückwirkens haben, behaupte ich, asketischen, d. h. übungshaften Charakter.“ (Sloterdijk S.174)


Selbst- und Sozialgestaltung – eine Höhenpsychologie (Max Scheler 1920, Victor Frankl 1938)

Innerhalb menschlicher Werte-, Rang- und Leistungsverhältnisse richtet sich der Einzelne bewusst und unbewusst auf ein Über, Höher und Voraus hin aus. Diese Ausrichtung ist tief in der menschlichen Entwicklung verankert. Schon das Kleinkind erfährt sich selbst im Verhältnis zu seinen Eltern und Großeltern als untergeordnet, als ein zu ihnen aufschauendes, überräumlich unterlegenes, welches die Erwachsenen als übergeordnete „Götter“ wahrnimmt, zu denen es langsam hinaufstrebt. Wenn es nachahmend handelt und sich neue Fähigkeiten erschießt, erfährt es Souveränität und hinterfragt die vorgegebene Vertikalität zu den Eltern. Es kann aber die Eltern nicht in derselben Weise umstoßen wie seine Bauklötzchen, sondern erfährt sie immer wieder als übergeordnet. Es erlebt dadurch eine stabile, Halt gebende Ausrichtung auf die Vertikalspannung, die zukünftigen Möglichkeiten seiner Entwicklung. 
Später richtet sich die Vertikalbeziehung auf Kulturideale und Wissensvermittler, auf immer neue „Könige“, auf Prominente, Präsidenten und andere Führungspersönlichkeiten. Die Attraktion der Königsfunktion, das Streben nach einem Über und Hinauf, einem verehrten Oben bleibt dem Menschen imaginär erhalten. Er muss neue „Könige“ küren, zu denen er aufstreben kann. Als neuer lebender König kommt nur ein Überwesen in Frage, welches durch seine Überwindung des Unmöglichen herausgehoben ist aus der Alltagssphäre, jemand, der einen Grund bietet nach Oben zu schauen. Dasein heißt dann Obensein. Indem der Artist diese Rolle einnimmt bietet er der Menge die untergeordnete Rolle und das Streben nach oben zu seinem Unwahrscheinlichkeitsgipfel an. Es geht also um ein jedem lebenden System eigenes Hinauswachsen über den Status Quo, welchem wir unweigerlich verbunden sind, sowohl biologisch-evolutionär als auch seelisch-geistig.
In der Natur ist das Aussterben einer Art wahrscheinlicher als ihr Überleben. Ein System, welches stagniert, stirbt. Ein stabilisiertes Überleben kann nur Ausgangsbasis für weiteres Wachstum sein. Insofern stellt ein Kontinuum von Lebensformexperimenten auf immer höheren Ebenen von stabilisierten Unwahrscheinlichkeiten den so genannten Fortschritt, die Bewegung des Systems zu einer wachsenden Komplexität dar. Wachstums- und Lebensprozesse sind unweigerlich auf diese erste Bewegung hin ausgerichtet, nicht nur im genialen Einzelnen, sondern auch in Kunst, Kultur und Gesellschaft. Nach Nietzsche ist Gott als spiritueller Führer der Menschheit tot, auch wenn es immer neue, der Menschheit dienende Götter geben wird, Schaffende, die am Erreichten anknüpfen, um höher und weiter zu gehen ohne Ressentiments gegen die eigene oder fremde Kreativität zu entwickeln, wie dies etwa auf dem zunehmend blasierten Kunstmarkt geschieht. Im kulturellen Lebensprozess wird das gestrige Große zum Normalen, welches jedem Mitmenschen zur Verfügung steht. Es dient als Basislager für einen nächsten Aufbruch. „Das Dasein des Menschen von morgen soll ganz auf Übung und Beweglichkeit gegründet sein, einschließlich der Willensgymnastik und der Mutproben für die eigenen Kräfte.“ (Sl. S. 194)
Der Mensch ist ein Gefahrensucher, ein Monstrum der Unruhe, welches in seiner Kunst immer weitergehen muss, sei es als Arzt, Staatsmann, Gesetzesgeber, Forscher oder Künstler. Daraus ergibt sich eine Disposition zu Überheblichkeit und Maßlosigkeit, zur „Unterwanderung der Menschlichkeit“. Das 1. Buch Moses, Kapitel 28 berichtet von Jakobs Traum von der Himmelsleiter, auf der Engel auf und nieder steigen und der Herr von oben spricht. Auch hier wird die Vertikalität von Entwicklung angesprochen. Jakob baut an der Stelle sein Haus Gottes, wo die Entwicklung seines Volkes in der Vertikalen weitergeht. Traumhierarchie wird an dieser Stelle Realhierarchie, wenn sich auf Erden die verschiedenen Rangstufen der Engel widerspiegeln. Die von der Höhe ausgehende Spannung erscheint hier als Leiter, als nicht fixierbares „Transzendenzgerät“ zur evolutionären Steigerung von Unwahrscheinlichkeiten. Marx spricht vom Überbau, Freud vom Über-Ich, Aurobindo vom Supramentalen, Adler von der Überkompensation. Es gibt den Overkill, die Überbevölkerung, den Supermarkt und den Superstar. Dabei sei, so Sloterdijk, die Ära des Übermenschen schon vorbei, in der Menschen sich mit Hilfe extremer psychischer oder physischer Mittel zu einer transzendenten Ursache erheben wollten. Vielmehr gehe es jetzt um die Anhebung des Entwicklungsniveaus der breiten Massen, um die bestehende Kulturentwicklung entwicklungsfähig zu halten.

Die Mönchskultur beeinflusste nachhaltig die Kulturentwicklung zwischen dem 5. und 18. Jahrhundert, sowohl in der Architektur und bei der Schaffung caritativer Einrichtungen, als auch in intellektueller, ökonomischer, administrativer und missionarischer Hinsicht. Waren es zur römischen Zeit die Kampfarenen, so sind es im Mittelalter die Klöster, in denen übendes Streben ritualisiert und weiterentwickelt wurde. Aber besonders das Stände- und Adelssystem im alten Europa trennte die ethischen Werte von Tugend (virtù) und Macht (areté), indem es mit Hilfe eines skrupellosen Erbadels bis in 19. Jahrhundert hinein der z. T. extremen Ausbeutung der Bevölkerung beitrug. Mit einer Mischung aus Ignoranz, Faulheit, Grausamkeit und Dekadenz regierten diese lokalen Fürsten ihr Machtgebiet ohne die Bildung und Kultur in der breiten Bevölkerung zu fördern. Mit ihrem aufgeblähten Selbstbewusstsein kannten sie nichts als die Disziplin der Unterwerfung. Kulturelles Leben hat die Tendenz zur Ausbildung von interner Mehrstufigkeit in sich, es sollte sich aber nicht auf der Grundlage von Herrschaft, sondern auf ethisch verantwortlicher Basis entwickeln. Dies ist bis heute nicht der Fall. Die Vertikaldifferenzierung von modernen Großgruppen, wie sie im Sportsystem des 20. Jahrhunderts und in der Entwicklung nicht-aristrokratischer Prominenz geschah, auch in Schule, Verwaltung, Wissenschaft und im Gesundheitswesen, zeigen „das soziale Feld als ein ebenso stolzbewegtes wie gierbewegtes System“. (Sloterdijk S. 209)
Diese durch Stolz und Gier bestimmte Tendenz der modernen Kunst und Kultur gilt es zu überwinden, wenn es eine Entwicklung zu einer aktivitätmobilisierenden Kultur auf breiter Ebene geben soll. Indem man übt und tut, was alle tun, ohne über den Wert des Tuns nachzudenken, nimmt man teil am gewohnten „Sprachspiel“. Bewusst und freiwillig gewählten Übungsgemeinschaften beizutreten erfordert logische Analyse und Absetzung vom Gewöhnlichen. Die Besessenheit von halbbewussten und unbewussten Regeln muss in ein freies Üben umgewandelt werden, bei dem nicht-deklarierte Übungen und Lebensformen in bewusste transformiert werden. Dabei muss dem Übenden klar werden, dass es nicht auf ein Reden über die Übungen, sondern auf ihre Ausführung ankommt. Arbeit an der Vertikalität bedeutet die Kraft zur Selbstgestaltung zu finden und individuelle ethische Kompetenz zu entwickeln. Der übenden Selbstgestaltung als der ureigensten Daseinsmöglichkeit entspringt die Bewegung mit sich selbst über sich selbst hinaus. Dabei ist ein exzentrisches oder ekstatisches Außer-sich-Geraten nicht schon ein Über-sich-hinaus-Gehen. Denn man kann das Bestehende nicht unter-, sondern nur überwandern.
Aus einer Fülle von Kompetenzsystemen müssen sich in allen Bereichen von Kultur, Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft übungsfähige Könnenseinheiten entwickeln. Auf jedem Gebiet vollziehen sich dabei unweigerlich ständige praktische Krisen, die zu Entscheidungen zwischen unrichtig (schlecht, nicht böse) und richtig bei der Ausführung der Disziplin entscheiden. Jede Einzeldisziplin besitzt dabei ihre eigene, nur aus ihr selbst verständliche Vertikalspannung. Das „Gute“ ist dann nicht Sollen oder übergeordneter Wert, sondern den eigenen Streben selbst inhärent.
Eine aktuelle Trainings- und Entwicklungspsychologie würde richtiges, angemessenes Handeln auf hohem Niveau anregen und fördern können. Es müsste untersucht werden, welche Kraft im handelnden Menschen zum Handlungsakt strebt und wie sie sich in jedem Könnensbereich im Rahmen der Vertikalspannung äußert, wie das, was schon gut gelungen ist, den Sog zum Besserwerden verspürt und jedes Können zu höherem Können aufruft. Diese moralische Kompetenz entwickelt sich zu künstlerischer und sozialer Leistungskraft.
Trainierte Könnensmodule werden jeweils zum neuen Basislager für den nächsten Sprung nach oben. Dabei entwickelt jedes dieser Vertikal-Systeme eine Gliederung in hierarchisch angeordneten Stufen, die Qualifizierungszustände, Berufsklassen, Persönlichkeitsbildung u. a. betreffen. Kollektive oder persönliche Identität kann produktiverweise als Ausgangspunkt für die Verschiedenartigkeit der Entwicklung von Menschen gesehen werden, sie kann aber auch in einer hierarchisch festgeschriebenen Pseudovertikalität stagnieren. Dann wertet sie in unproduktiver Weise ab oder auf.
Es ist überdurchschnittlich unwahrscheinlich, dass sich Einzelne oder gesellschaftliche Gruppen aus ihrer Habitusgemeinschaft herauslösen, aber es passiert, immer wieder. Kulturentwicklung geschieht nur auf diese Weise, mit Hilfe von Katapulten, von Pionieren, in einer Sezession von Gewohnheiten und einer Hinbewegung zum Übergewöhnlichen. Es findet eine unvermeidliche innerseelische Spaltung zwischen dem „Gewohnheitstier“ und der Strebung nach Höherem statt, die sich im äußeren Raum durch Klassifizierungen von Menschen und Menschengruppen spiegelt und verschärft.
Als Beobachter dieser nichtpolitischen Klassenspaltung tritt der „Zeuge“ auf, der beide Strebungen in sich und um sich wahrnehmen kann, Sprache findet für seine eigene Position, und sich dabei eingebettet sieht in das irreversible Strömen des Werdens, weshalb man nach Heraklit nicht zweimal in denselben Fluss steigen kann. Wer einmal aus dem Fluss einer Gruppe gestiegen ist, kann nicht mehr zurück zu seiner alten Art. Wenn er wieder hinein steigt schließt er sich an eine neue Strömung an. Die Impulsmacht der aufwallenden Affekte überwindet die Trägheitsmacht der Gewohnheit. Wenn das Individuum als ein übendes die Trägheiten in sich selbst nachhaltig überwindet, entsteht jeweils eine Wende, es wird zum Lehrmeister, zum Erleuchteten, Weisen, zur neuen Vorbildfigur.
„Du musst Dein Leben ändern“ tönt es seit dem 5. Jahrhundert vor Chr. im alteuropäischen Raum, beginnend bei den griechischen Statuen. Es heißt durch innere Aktivierung ein übendes Subjekt zu werden, welches dem eigenen Vorstellungsleben, den Leidenschaften und Gewohnheiten überlegen ist. Vom passiven Modus des Geformtseins zu einem aktiv sich formenden überzugehen, steht am Anfang jeder höheren Kulturentwicklung. Der Mensch ist psychodynamisch zum Üben, Denken und Lenken verurteilt. Er kann nicht anders, da Stagnation in lebenden Systemen unweigerlich zu ihrem Tod führt. Lernen zieht seinen Sinn nicht aus der Macht der Gewohnheit, sondern aus seiner vertikalen Strebung, aus dem Überschuss von in der Vertikalspannung erzeugten Kräften in Richtung des angestrebten Superlativs.


Kunst am Menschen – die Selbstbezüglichkeit der Kunstsysteme

In den Werkstätten der Handwerker bildete sich ab dem Mittelalter eine Kultur des übenden Herstellens von Gebrauchsgütern mit hohem künstlerischem Wert. Die meditative Wiederholung von Handwerksgesten und Handgriffen bündelte sich beim Handwerksmeister zu einer hohen Kunst, die ihn selbst durch das regelmäßige achtsame Tun geistig formte und spirituell schulte. In der Neuzeit wurde die Arbeit zur Ware, während sich die Künste von den Handwerken abtrennten. In den Fabriken und Manufakturen geht es neben der Präzision hauptsächlich um eine Beschleunigung der Herstellung und um die Produktion von Mengen.
Der Künstler dagegen rettet sich in seine schöpferische Kompetenz. Er opfert das Allgemeine zugunsten des Besonderen, während der Arbeiter das Besondere zugunsten des Allgemeinen hingibt. Das zukünftige, wahre Ganze ist beim bildenden Künstler das neue Werk, für den Arbeiter besteht es in der Hingabe und den Dienst an den Bedürfnissen der Anderen.
Als täglich Übende verändern sich die jeweiligen Gruppen und Individuen in spezifischer Weise. Neuropsychologisch sind die durch Übungen erzeugten seelischen Effekte nicht von den natürlichen psychischen Strebungen zu unterscheiden.

Wie auch immer unsere täglichen Übungen und Routinen aussehen, sie wirken körperlich, seelisch und geistig auf uns zurück. Die Ausrichtung auf Geschwindigkeit und Produktivität, wie sie uns die Wirtschaft vorschreibt, und die Ausrichtung auf ein passives Genussstreben im Privatleben erzeugen eine zunehmende Unselbständigkeit und moralische Verantwortungslosigkeit, die den Menschen erschöpft und demotiviert. Berufliches und privates Scheitern sind so auf breiter gesellschaftlicher Ebene vorprogrammiert, wenn wir nicht neue Anstrengungsprogramme zur Mobilisierung von Kreativität und Gemeinschaftsbildung entwickeln und den Vielen zugänglich machen.
Kulturträger, die ihre Fähigkeiten an Andere weitergeben, könnten zu Hütern von neuen kreativitätsfördernden Ritualen werden. Kulturelle Wertschöpfung muss zur persönlichen Aktualisierung von Könnenschancen aufrufen und individuelle Anstrengungen zur Bildung neuer Gewohnheiten anregen. Eigenanstrengungen dürfen sich nicht mehr nur auf die Erhöhung des persönlichen Leistungsniveaus ausrichten, sonst verliert der Einzelne den Kontakt zum eigenen Inneren, welches ebenfalls der Gestaltung bedarf.
Der moderne Steuerstaat braucht den ständigen Zuwachs von Geldmitteln aus den besteuerbaren Eigennutzzentralen. Er ist deshalb nur an der Steigerung des Leistungsniveaus seiner Bürger interessiert, nicht an ihrer Bildung und Entwicklung. Der kapitalistische Zwang zur Kostenminderung der Arbeit zerstört zunehmend unsere Sozialsysteme und sanktioniert die immer größer werdende Zahl der Überflüssigen und Unbrauchbaren.
In den Schulen werden Heranwachsende nicht genügend auf die Arbeitswelt vorbereitet, sondern mit einer Allwissenheitsideologie belastet. Die in den Schulen fehlende Übungskultur führt in Verbindung mit passivem Medienkonsum zu einer gestörten Lernfähigkeit. Denn gesunde Lernfähigkeit kann sich nur aus einem anregenden Zusammenhang zwischen Selbstsehen und Selbsttun entwickeln. Eigenaktivität und künstlerisches Handeln wurden im Schulsystem systematisch abgewertet. Gemeinschaftsbildung und Sozialverhalten haben einen geringeren Stellenwert als abfragbares Wissen. Diese Wertungen prägen das Verhalten unseren Kindern und Jugendlichen, die vor lauter Konsumieren nicht mehr zu sich selber finden. In einer immer komplexer werdenden Umwelt ist der Einzelne zunehmend auf die Kompetenz anderer angewiesen. Beim Arzt, in der Politik, in allen Arbeits- und Freizeitgebieten benötigt das Individuum die Aktivität kompetenter Anderer, die an ihm etwas für seine Selbstverbesserung tun. Auch hier wird der Einzelne an passive Haltungen gewöhnt. Das lässt sich leider nicht vermeiden. Aus Sartres Sicht kann Selbstentwicklung nur durch den immer wieder aktualisierten Bruch mit der inneren Passivität erlangt werden.
Die Fähigkeit an den Kompetenzen der anderen teilzuhaben und ihnen selbst durch Entwicklung eigener Kompetenzen zu dienen, erfordert ein freies Schwingen zwischen dem eigenen Aktivitäts- und Passivitätsmodus. Dieses freie Schwingen wird in Kreativprozessen geübt und entwickelt. Die Etablierung von Kreativität im Handlungsalltag schützt das Individuum nicht nur vor dem inneren Zerfall in der Passivität, sondern auch vor dem manisch-hektischen Aktivitätswahn, welcher der modernen Welt anhaftet.
Das Schwingen um eine freie innere Mitte in Verbindung mit einer individualisierten Ausrichtung auf einen Steigerungsweg im Kompetenznetzwerk der gewählten Gruppe ist heute die Aufgabe des Individuums. Unsere Kultur braucht auf allen ihren Fachgebieten einen stabilen Optimierungskurs, um sich zu erhalten. Für die bildende Kunst heißt dies, dass sie sich technisch, thematisch und formal wieder an ein Trainingsbewusstsein anschließen muss, welches sie seit etwa hundert Jahren zunehmend verloren hat. Zur Zeit können sich vor allem die Künstler im Kunstbetrieb profilieren, welche die zunehmende Selbstsucht und Selbstbezüglichkeit auf ihre Fahnen schreiben. Das Kunstwerk weist nicht mehr auf etwas Höheres hin, sondern nur noch auf seine eigene Ausgestelltheit. Als selbstreferentielles System kann es die Sehnsucht der Menschen nach Bedeutsamkeit und Transzendenz nicht erfüllen, sondern nur aufstauen und unbefriedigt zurücklassen. Die mit dem Kunsterlebnis entstehende Leere und Frustration wird zum Selbstzweck erklärt und pseudoreligiös legitimiert. Selbstbezogene Kuratoren und als Selbstsammler auftretende Künstler agieren ein beliebiges Mehr von Selfishness. In der Renaissance war der bildende Künstler der Meister der christlichen Darstellung, des Portraits und der Landschaft. Die Kunst zeigte Werkstattmacht, während sie in der frühen Moderne mit der Ausstellung des Pissoirs von Duchamp Ausstellungsmacht präsentiert, um schließlich heute in der Selbstdarstellung des sich selbst präsentierenden Museums als Kunstmarktmacht zu enden, welche alle Macht den Sammlern überlässt. Auf dem Wege der Veräußerlichung in eine Eventkultur ahmt der Aussteller den Aussteller, der Käufer den Käufer nach, um schließlich den Künstler und sich selbst mit reichen Belohnungen blind zu machen. Was wiederholungswürdig ist und was nicht wird nicht mehr unterschieden.

Der moderne Mensch aber braucht Übungswege, die ihm helfen aus der Banalität seines Daseins, aus Stumpfheit und Depression auszusteigen. Er braucht Kulturimpulse, die ihn zur Identitäts- und Gemeinschaftsbildung anregen.
Diese beiden Impulsrichtungen stellen nur scheinbar einen Gegensatz dar. Denn der Mensch ist in seinen Wurzeln zuerst Mitmensch, ist in Situationen und Kollektive eingebunden. Er ist existentiell auf ein Außer-sich-Sein angelegt. Erst in zweiter Instanz kann er sich um sein Selbstsein kümmern. In der Welt sein bedeutet auch Distanzverlust, bedeutet sich aus einem Außer-sich-Sein auf den Weg zu sich selbst zu machen. Wer also „ich“ sagt, stellt sich selbst über sein ursprüngliches Mitsein und unterliegt der Gefahr illusorischer Überhebung. Das zur Verfügung stehende gesundheits- und entwicklungsförderliche Übungswissen hat sich bis in unsere Zeit extrem vermehrt, es müsste nur genutzt werden, um die Entwicklung von Kollektiven und Individuen voranzubringen.
Als die stärksten Mittler zwischen Welt- und Selbstverständnis haben sich die Heilkunde, die Künste und die Demokratie bewährt. Wenn wir diese drei Kräfte fördern und erhalten, entwickeln wir uns kulturell weiter.
Im Kern bezieht sich alle Kommunikation unserer Gegenwart auf den Ruf von Rilke: Du musst dein Leben ändern! Im Fluss der riesigen Informationsmengen wirkt dieser Ruf ordnend und prägt dem modernen Leben eine moralische Gestalt auf. Die Sorge um das Ganze lässt ein Streben zum Besseren entstehen, welches aber in seiner Befehlsform eine bedingungslose Überforderung darstellt. Jede im Alltag zu erbringende Anforderung, jedes vernünftige und maßvolle Gebot setzt für seine tätige Umsetzung eine Anspannung voraus, die aus einem noch unerfüllten Anspruch entsteht. Nur wer sich auf Größeres ausrichtet, ist in diesem Sinne Mensch. Wer in der Überforderung seiner Vertikalspannung lebt, kann sich zum transzendenten Pol hinziehen lassen. Das Transzendente, das Erhobene, welches mich anschaut, ist persönlich. Jede Ethik gründet in der Erfahrung des Erhabenen. Und nur dieses kann die Überforderung aufrichten, die den Menschen auf den Weg zum Unmöglichen vorantreibt.
Es reicht nicht das Bestehende zu bewahren. Aber die Forderung nach ökologischem Handeln wirkt für den Einzelnen wie eine Unmöglichkeit angesichts der Wirtschaftsgier der Hyperreichen. Zwischen dem Einzelnen und der Weltgesellschaft tritt angesichts der drohenden Klimakatastrophe eine unglaubliche Vertikalspannung auf. Unsere sozialen und solidarischen Immunsysteme zeigen Auflösungserscheinungen, weil das Bewusstsein für die gemeinsamen Werte schwindet. Die einzelnen Völker und Wirtschaftssysteme glauben immer noch, dass eigene Stärke und Immunität nur durch die Schwächung der anderen zu erreichen ist, in der Trennung des Eigenen vom Fremden.
Solange der Sieg des Eigenen die Niederlage des Anderen bedeutet, entstehen letztlich Immunverluste für beide Seiten, weil die Weltgemeinschaft an eine Grenze gekommen ist. Effektive Solidaritätsgemeinschaften sind heute wie früher national, imperial, familial. Eine allgemeine Immunologie müsste aber über sämtliche Unterscheidungen des Fremden vom Eigenen hinausgehen. Der dominierende ausbeuterische Prozess müsste als das eigentlich Fremde benannt und ausgegrenzt werden.
Kooperative Logik würde die Besonderheit der Einzelkulturen und lokale Solidaritäten berücksichtigen. Für den Einzelnen würde dies heißen, in täglichen Übungen für das gemeinsame Überleben gute Gewohnheiten zu pflegen und in selbst gewählten Übungsreihen eigene und fremde Entwicklung gleichermaßen zu fördern. Dieses Entwicklungsniveau hat Jean Gebser 1953 als integrales Bewusstsein bezeichnet. Es muss deshalb Aufgabe eines zeitgemäßen Kulturimpulses sein heilsame, kreativ-künstlerische und demokratische Übungswege für Einzelne und Gruppen anzuregen, um sie für alle Menschen zugänglich zu machen.
Kulturträger, die in sinnloser und wahlloser Weise andere Schaffende ausgrenzen, sollten in die Grenzen ihrer Selbstbezüglichkeit verwiesen werden. In Seminaren zur Selbst- und Sozialgestaltung könnten auf breiter Ebene kulturelle Impulse angestoßen und gepflegt werden, die zu einem neuen gemeinsamen Wertebewusstsein beitragen. Künstlerpersönlichkeiten könnten mit öffentlichen Aktionen Menschen zu breit angelegten Kulturinitiativen anregen, um so den Arbeits- und Privatalltag zu bespielen und dabei langfristig zu verändern. Wohl dem, der sich schon auf diesen Weg begeben hat! Er macht nämlich glücklich!


                                                                Regula Rickert im Dezember 2009

 
Literatur:
Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. 2009.
Luise Reddemann: Überlebenskunst. 2008.