Zur Psychodynamik in der Kunsttherapie
   
Die Fähigkeit des Menschen kreativ zu sein und sein Sinn für kulturelles Erleben bilden sich im Zusammenhang mit seinen frühesten Beziehungserfahrungen während der schizoiden und oralen Entwicklungsphase.  In der primären Beziehung zur Mutter entsteht ein Möglichkeitsraum (potential space nach Winnicott 1974), in dem sich die Beziehung zwischen beiden in den ersten Lebensmonaten nach der Geburt ausbildet. Wenn der Säugling seine Bedürfnisse befriedigt bekommt, fühlt er sich, als habe er selbst diese Welt erschaffen, die ihm dient (Winnicott 1986). Mit seinen Allmachtsgefühlen schließt er sich an sein Erleben im Mutterleib an, eine Zeit in der er weder atmen noch trinken noch seine Körpertemperatur selbst halten musste. Seine Mutter umschloss ihn ganz und bildete zusammen mit ihrem Lebensumfeld eine Welt, in der er vollständig versorgt der Mittelpunkt seiner eigenen Welt sein durfte. Im potentiellen Raum zwischen Mutter und Säugling entsteht nach dem Verschmelzungserleben zwischen beiden ein Spannungsfeld, in dem das Kleinkind das eigene Selbst vom Selbst der Mutter trennen lernt, wenn sich diese immer wieder auf sich selbst zurückzieht und die symbiotische Anpassung an die Bedürfnisse des Kindes graduell zurücknimmt. Im existentiell gelebten Spiel zwischen Verschmelzung und Trennung entwickelt das Baby ein tragendes Gefühl von Vertrauen und Zugehörigkeit, von Kontinuität und Zuverlässigkeit. Weiche, rhythmische Übergänge von einer Situation zur anderen, von der Bedürftigkeit zur Befriedigung, von Ängsten zu Geborgenheit schaffen das Gefühl von Sicherheit und eine erste räumliche und zeitliche Orientierung, durch welche Babys ihre Selbsterleben entwickeln. Vorher sind die verschiedenen Gefühlqualitäten im kindlichen Erleben kaum voneinander getrennt und erscheinen unberechenbar. Ohne das Erlebnis eines potential space kann sich das Kind und später auch der Erwachsene nicht als ein einzigartiges, mit bestimmten Begabungen ausgestattetes Individuum begreifen. Winnicott schreibt, dass das Empfinden für den Wert der eigenen Existenz und die eigene Kreativität identisch sind:
„Wir beobachten, dass Menschen entweder kreativ leben und das Leben für lebenswert halten, oder dass sie es nicht kreativ leben können und an seinem Wert zweifeln. Dieser Unterschied zwischen einzelnen Menschen hängt mit der Qualität und Quantität der Umweltbedingungen zu Beginn oder in den ersten Phasen der individuellen Lebenserfahrung zusammen.“ (D.W. Winnicott Vom Spiel zur Kreativität, Klett 1971a, S.84

Kreativität entwickelt sich, so Winnicott, aus dem Gefühl des Babys, dass es selbst die Welt erschaffen hat, die es benötigt. Dieses frühe omnipotente Selbstgefühl entwickelt sich nur dann, wenn der Säugling die Fürsorge für seine seelischen und körperlichen Bedürfnisse auch vorfindet, wenn er sie braucht. Der Säugling kann sich nur auf dem Boden seiner in einer Beziehung gelebten Omnipotenzgefühle langsam seines Getrenntseins von der Welt bewusst werden, der Tatsache, dass er ein individuelles Selbst unter vielen ist. Aus psychoanalytischer Sicht entsteht Kreativität aus einem von innen kommenden, durch Triebwünsche geleiteten Handeln, einem Gefühl, dass die Welt durch die eigene Existenz anders werde. Rein reaktive, auf äußere Geschehnisse antwortende Verhaltensweisen dienen dem Menschen für den Kampf ums Überleben. In diesem Modus ist das Gehirn unfähig kreative Prozesse in Gang zu setzen (Bauer 2007). Menschen, die mit dieser Grundempfindung leben, glauben, dass ihre Existenz weder für andere noch für sie selbst von Bedeutung ist und dass sie grundsätzlich unwillkommen sind. Dieses grundsätzliche Lebensgefühl ist ihnen aber meistens kaum bewusst, weil sie es als normal empfinden und sich an keinen anderen Grundzustand erinnern können. Wenn die primären Bezugspersonen ihre haltgebenden und schutzbietenden Funktionen nicht ausfüllen konnten, das Kind ablehnten oder selbst traumatisiert waren, bei frühen Gewalterfahrungen oder Überfürsorglichkeit mit aggressivem Hintergrund konnte sich der haltgebende Beziehungsraum zwischen Mutter und Kind nicht entwickeln. Dann kommt es zu schweren Entwicklungsdefiziten: Ein traumatisch fixierter Dauerzustand der Angst und Existenznot führt zu kognitiven, psychischen und physischen Beeinträchtigungen. Die mit diesem Zustand verbundene Hypervigilanz (Überwachheit) fördert einseitige Intellektualität bei gleichzeitiger emotionaler Labilität. Die Beziehungsfähigkeit ist stark eingeschränkt, weil solche Menschen zwischen lebendigen Wesen und Sachen kaum unterscheiden können und sich durch Nähe bedroht fühlen. Die Fähigkeit zwischen sich selbst und dem Anderen, zwischen Fantasie und Realität, zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu unterscheiden ist bei ihnen eingeschränkt und verstärkt die Gewaltbereitschaft. Wer kein Gefühl für eine möglicherweise hoffnungsvolle Zukunft, keinen potentiellen Möglichkeitsraum erleben kann, für den ist das Aufschieben von Wünschen unerträglich. Die steigende Gewaltbereitschaft und Desorientierung in unserer Gesellschaft weisen darauf hin, dass viele Menschen in ihrer frühen Lebenszeit ihren potential space nicht ausreichend entwickeln konnten, und dies, obwohl unsere Gesellschaft mit ungeheuren Reichtümern ausgestattet ist wie keine uns bekannte zuvor. Es erscheint mir durchaus möglich, dass eine Vielzahl von psychischen Erkrankungen ihre Wurzeln in einer solchen Störung der frühen Lebenszeit haben.

Wenn es um die Stabilisierung und Heilung bei psychischen Erkrankungen geht, sind diese Einsichten für die Kunsttherapie von besonderer Bedeutung. Die klassische Psychoanalyse fokussiert auf die Aufdeckung verdrängter Triebwünsche und ihre symbolische Aufarbeitung in einer Übertragungsbeziehung mit dem Therapeuten. Die psychoanalytische Arbeit mit Übertragung und Gegenübertragung setzt ein stabiles Grundgefühl und die Symbolisierungsfähigkeit, die Fähigkeit zur Arbeit auf einer Metaebene voraus. Mit dieser Form der Therapie sind Patienten überfordert, die an einer Früh- oder Strukturstörung leiden, weil sie sich in einem undifferenzierten vorsymbolischen Lebensgefühl befinden, welches eine Differenzierung und Symbolisierung nicht zulässt. Sie benötigen ihre gesamte Kraft, um mit ihrer traumatisch fixierten, existenziellen Angst vor Vernichtung zu überleben. Das Verstehen der eigenen Entwicklungstraumatisierung und die bloße Anpassung der Verhaltensweisen an eine normale Umgebung, wie sie die Verhaltenstherapie anstrebt, helfen hier wenig, wenn sich die Therapie nicht vorher und oft über einen längeren Zeitraum auf die Nachentwicklung und Festigung der Persönlichkeit ausrichtet. Dies kann die Kunsttherapie in besonderer Weise leisten, weil sie sich auf einer vorsymbolischern Ebene dem kreativen Entwicklungsraum des Menschen nähern kann, der zugleich der frühe Möglichkeitsraum ist. Die Arbeit mit Frühtraumatisierten setzt allerdings eine psychotherapeutische Grundqualifikation voraus, die heute im Studium der Kunsttherapie nur sehr selten vermittelt wird. Bevor es in der kunsttherapeutischen Arbeit bei diesen Patienten zum Malen oder plastischen Gestalten kommt, muss sich die Therapeutin für die Schaffung eines offenen Möglichkeitsraumes innerhalb der therapeutischen Beziehung einsetzen. Dieser darf nicht von den Ideen und Wünschen der Therapeutin besetzt sein. Sie schafft für den Patienten eine undefinierte, dem Mutterleib ähnliche Atmosphäre, welche auf nichts Bestimmtes zielt (freischwebende Aufmerksamkeit nach Freud, Afokalität nach G. Schneider 2003). In diesem potential space sucht der Patient von selbst die Zugehörigkeit zur Therapeutin ohne dass diese daran eigene Bedingungen knüpft. Verwirrende oder negative Äußerungen haben darin ebenso Platz wie ideelle Projektionen. Letztlich möchte die Patientin in ihrer Tiefe und Individualität angenommen und noch einmal auf dieser Welt willkommen geheißen werden, in einer Welt, die für sie da ist, damit sie diese Welt für sich selbst noch einmal neu erschaffen kann. Das in der therapeutischen Gegenwart auftauchende Material, die dazugehörenden Körpergefühle und Raumwahrnehmungen werden Ausgangspunkt der bildnerischen Arbeit, in der sich der Patient jeweils neu erschafft, bildnerisch definieren und in seinen Potentialen erkennen lernt. So bekommt er langsam ein Gefühl für die eigene Identität. In jedem Fall wird er die Zugehörigkeit, Anerkennung und Verfügbarkeit des Therapeuten suchen, wenn auch häufig in verzerrter und projektiver Weise. Sein Verhältnis zur Therapeutin kann starken Schwankungen unterworfen sein. Seine oberflächlich aufgesetzte Differenzierung der Wahrnehmung kann sich noch einmal zu einer vorübergehenden Undifferenziertheit auflösen, um sich von dort aus zu einer personzentrierten Wahrnehmung mit deutlicheren Ich-Strukturen zu entwickeln. Die therapeutische Beziehung wird von solchen Patienten immer wieder auf die Probe gestellt und mündet häufig in der zentralen Frage: „Willst du mich überhaupt?“ Diese Frage wird die Patientin auch in der Beziehung zu ihrem Bild in vielfältiger Weise ausdrücken. In jedem Fall bietet die Therapeutin einen Rahmen, in dem die Patientin in möglichst vielfältiger Weise projizieren und spalten kann ohne sich von der Therapeutin bedroht zu fühlen.

Gefühle, die Patienten nicht bewusst differenzieren können, können sie auch nicht aussprechen. Die Therapeutin stellt hier für den Patienten eine primäre Kommunikationsebene her, in der er über unterschiedliche Stimmlagen und Geräusche, durch Mimik und Körperausdruck einen gefühlsgeleiteten Ausdruck finden kann, um ihn auf das Bild oder in die Plastik zu übertragen. Der Aufbau einer solchen Grundkommunikation setzt einen Selbstentwicklungsprozess in Gang, der die Voraussetzung für die Entwicklung einer differenzierten Wahrnehmung ist. Für früh traumatisierte Patienten ist das kreative Spiel allerdings häufig absolute Realität, weil sie eine symbolisierende Als-ob-Haltung noch nicht entwickeln konnten. Die von ihnen auf dem Bild dargestellten Personen sind dann keine bildliche Darstellung der Person, sondern werden als real gegenwärtig erlebt. Dann kann das ungegenständliche Farbenerleben oder die abstrakte Plastik viel leichter einen Zugang zur seelischen Realität öffnen. In diesem Fall kann die Patientin ihre Gefühle meistens nicht in Worte fassen. Dazu benötigt sie die Wortäußerungen der Therapeutin, die der Patientin Worte zur Verfügung stellt ohne diese zuzuschreiben. Wenn die Therapeutin äußert, was sie am Ausdruck und Verhalten der Patientin berührt, hilft sie ihr ein eigenes Selbstgefühl aufzubauen. In diesem Moment entsteht ein Möglichkeitsraum, in dem sich die Beziehung zwischen beiden entfalten und ausgestalten kann. Erst dann wird im Rollenspiel die Entwicklung einer spielerischen Als-ob-Haltung sowohl in der therapeutischen Beziehung zwischen Patientin und Therapeutin als auch in der Beziehung der Patientin zu ihrem Bild möglich. Y.Cohen (2004, S.223) sagt, dass der Therapeut umso mehr kreative Elemente in die Therapie einbringen muss, je schwerwiegender die Entwicklungsdefizite des Patienten sind. Gemeinsam mit dem Patienten muss er das kreative Potential des Patienten freilegen, um ihm das Gefühl zu vermitteln, dass er überhaupt existiert. Dazu benötigt er das Erleben von Einssein in der therapeutischen Beziehung. Dieses primäre Gefühl ist notwendig, intellektuell aber zunächst unbegreiflich. Erst aus dem Erleben des Einsseins entwickelt sich die Fähigkeit auf einer tieferen seelischen Ebene zwischen sich selbst und anderen zu unterscheiden, sich selbst ohne Angst als getrennte räumliche und zeitliche Einheit zu erleben. Die Anerkennung eines Du hängt von der Fähigkeit ab, Einssein und Getrenntsein erleben zu können. Ohne die Erfahrung des Einsseins gibt es auch keine der Getrenntheit. Beide Erfahrungen gründen auf etwas Einzigartigem: Dem real erlebten Möglichkeitsraum zwischen zwei Menschen, welcher in sich sinnstiftend und kreativ ist. In der einzigartigen, empathischen kreativen Begegnung vollzieht sich die Wandlung und Wende, spiegelt sich das Selbst im anderen Selbst und entdeckt darin seine eigene Existenz. Das handwerklichen Können des Therapeuten, so notwendig es ist, ist auf Anerkennung und Wertschätzung eines Gegenüber, und damit auf Trennung und Verschiedensein ausgerichtet. Der eigentliche kreative Vollzug der Heilung geht darüber hinaus und entspringt dem Einheitsempfinden und der Einzigartigkeit eines potential space, der primär nicht verbal sein kann und auf dem Erleben der therapeutischen Beziehung beruht.

Kunsttherapie hat hier ebenso wie die sprachlich orientierte Psychotherapie eine psychotherapeutische Relevanz,  wenn ihre Psychodynamik auf den vorsprachlichen Bewusstseinsebenen der menschlichen Psyche erkannt und von Therapeuten bewusst eingesetzt werden kann.

Regula Rickert im Juni 2008