Die Kriegsmaschine
von Sergio Zevallo
»Kunst
meint die Gesamtheit menschlicher Hervorbringungen und Gestal-
tungen sowie der entsprechenden Tätigkeiten, die
selbstzweckhaft und in
symbolischer Form menschliche Welt- und Selbstverhältnisse
zur Darstel-
lung bringen und diesbezüglich den Rezipienten eine
bedeutungsoffene
Mitteilung machen.«⁷
Die ästhetische
Erfahrung beinhaltet neben der sinnlichen Erfassung des Kunstwerks die
Aktivierung der Denkfähigkeit und der Vorstellungskraft, entreißt das Subjekt
seiner Alltagswelt und fokussiert es auf einen bewusst erlebten
Wahrnehmungsvollzug. Marcus Düwell weist darauf hin, dass der ästhetische
Genuss selbst schon eine reflexive Qualität hat.⁸
Aus ästhetischer Sicht handelt
es sich bei Zevallos Kunstwerk A War Machine um ein Kunstwerk, weil die
bildliche Darstellung der Gewalt selbstzweckorientiert auf ästhetischen Genuss
ausgerichtet ist und Bedeutungsvielfalt vermittelt. Es stellt die in seiner Heimat allgegenwärtigen Nachwirkungen der
Kolonialzeit in einen globalen Zusammenhang, der den Machtmissbrauch des
Kapitalismus und die Facetten seiner Gewalt veranschaulicht. Die
Gewaltdarstellung dient hier weder einem konkreten politischen noch
gesellschaftlichen Zweck im Sinne einer Parteimeinung, einer Lösung oder einer
Weltrettungsutopie. Zevallo fordert die Rezipient*innen seines Werkes lediglich
zur Wahrnehmung von Zusammenhängen auf und bietet ihnen eine offensichtlich
ironisch gemeinte Lösung des Problems in Form einer utopisch-provokativen
Gewaltfiktion an, die durchaus einen ästhetischen Genuss implementiert. Dabei
bleibt sein Werk bedeutungsoffen, denn inwieweit seine Fiktion auf einen
einzelnen Staat, einen Lebenszusammenhang oder die persönlichen Beziehungen
Einzelner betreffen würde, überlässt er ganz der Fantasie der Rezipient*innen.
Sein Kunstwerk versetzt die Betrachter*innen in die Rolle von konsequent
mithandelnden Gewaltausübenden, welche die Position des guten, edlen Opfers
abgelegt haben und keine andere Wahl zu haben scheinen als Gewalt mit Gewalt zu
begrenzen. Die Rezipient*innen sehen sich dadurch subtil mit ihrem eigenen
Gewaltpotential konfrontiert und werden angeregt über Gewalt zu reflektieren.
Dabei bleibt offen, ob der Künstler eine solche Kampfmaschine realistisch
umsetzen oder moralisch für akzeptabel hält. Die Fiktion erlaubt zunächst
einfach nur die Verbildlichung und Globalisierung von gesellschaftlichen,
politischen, wirtschaftlichen und individuellen Unterdrückungssituationen.
Zevallo selbst sagt, sein Werk sei »die Rekonstruktion einer neuen Souveränität
für den vom kolonialen und nekropolitischen Kapitalismus verwundeten Körper«⁹
der Individuen.
Trägt dieses Kunstwerk aber aus
individualethischer Sicht zu einem guten Leben der Rezipient*innen bei? Und ist
es aus sollensethischer Sicht moralisch akzeptabel? A War Machine ist
kein Werk, welches in Form einer Vision zur Verbesserung des guten Lebens der
Betrachter*innen beiträgt. Seine Gewaltdarstellungen könnten jedoch manche
Betrachter*in seelisch entlasten, vor allem wenn sie selbst von den weltweit
sich verschlechternden Wirtschaftverhältnissen betroffen ist und die
Schrumpfköpfe genussvoll als Bild der Einschrumpfung von politischen Macht der
bekannten reichen Amtsinhaber*innen verstehen. Die Vorstellung wie diese einmal
enden könnten, weckt sicher die ein oder andere lustvolle oder sarkastische Freude am Untergang
dieser Mächtigen, zumal Zevallo sie selbst im Begleittext an der Wand als »geborene
Verbrecher« und »menschenfressende Persönlichkeiten«¹º bezeichnet. Allein diese
Titulierungen und die Darstellungen der Schrumpfköpfe werfen die Frage auf, ob
hier die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen verletzt worden sind,
zumal ihre Schuld im Kunstwerk selbst ja weder sachlich aufgelistet noch
rechtlich erwiesen wird. Entpuppt sich das Werk, wie Henrik Müller sagt,
vordergründig als »ein roher Antikapitalismus«, hintergründig als »brutale
Intoleranz«?¹¹ Ganz sachlich gesehen würde wohl jede*r von uns eine persönliche
Darstellung als Schrumpfkopf mit Angaben zum Namen und ausgeübten Beruf in einer
Weltausstellung, zu der fast 1 Million Menschen kommen, als sehr verletzend
finden. Da jedoch ein sogenanntes öffentliches Interesse an diesen Personen
besteht, sind diese Persönlichkeitsrechte offen-sichtlich aufgeweicht, weil die
Information der Öffentlichkeit und das Gemeinwohl vor dem Individualinteresse
steht.¹² Auch dürfte die im Grundgesetz verankerte Kunstfreiheit¹³, nach der in
Deutschland jede*r seine Meinung in Wort, Bild und Schrift frei äußern darf,
dieses Werk schützen, denn es ist kein Aufruf zur konkreten Ausübung von Gewalt
gegen die genannten Personen. Aus moralischer Sicht ist der Künstler jedoch,
wie jeder andere Handelnde, nicht nur für die gegenwärtigen Folgen seines Tuns,
sondern auch für seine zukünftige Folgen verantwortlich.¹⁴ Sollte also eine der
genannten Personen irgendwo auf der Welt, beeinflusst durch die Darstellung als
Schrumpfkopf, irgendwann einmal Schaden nehmen, wäre dafür der Künstler
mitverantwortlich. Eine solche Mitverantwortung ist allerdings in einer
globalisierten Welt ausgesprochen schwierig festzustellen. Die moralische
Forderung die persönlichen Gefühle der dargestellten Personen nicht zu verletzen
und ihre Integrität zu wahren, auch wenn sie sich schuldig gemacht haben, fällt
bei angesehenen Persönlichkeiten, die in den Medien immer wieder zitiert werden,
wesentlich leichter als bei einem Mafiaboss oder Beate Zschäpe. Zevallos weist
uns anschaulich darauf hin, dass auch diese hochstehenden Personen
(möglicherweise) in die weltweite Korruption verstickt sind, und dass wir
tendenziell mit zweierlei Maß messen, wenn wir die NSU-Verbrecherin mehr
abwerten als Bankenmanager und Wirtschaftsbosse, die abertausende von Menschen
in Elend oder in den Tod getrieben haben oder für immer wieder ausbrechende
Wirtschaftskriege verantwortlich sind.
Insofern klingt bei
Zevallos´s Kunstwerk auch eine moralische Komponente an. Seine künstlerisch
inszenierte Gewalt nimmt als dystopische Fantasie die Mächtigen aufs Korn und
minimiert sie per schamanischem Ritus zu geschrumpften
vergänglichkeitsabhängigen Puppen eines globalen Szenarios, auf die der Bumerang
der Rücksichtslosigkeit zumindest in unserer Fantasie vorbehaltlos
zurückschlägt. Aus ethischer Sicht können wir zu seinem gewaltdarstellenden
Kunstwerk jedoch eine distanziert-kritische Haltung der Rezeption bewahren. Es
ist auch eindeutig als fiktionales Werk zu verstehen, und aus diesen Gründen
ethisch akzeptabel, denn es enthält keine gewaltvollen Handlungsanleitungen. Zu
den moralischen Beurteilungskriterien von Kunst, die wir in unserer Kindheit
verinnerlicht haben und mit denen wir unbewusst oder teilbewusst spontan und
daher unterschiedlich auf Kunstwerke reagieren, gehört wesentlich, dass ein
Kunstwerk den Rezipient*innen weder physisch noch psychisch Schaden zufügen
darf. Da Zevallos mit seiner War Machine das globale und individuelle
Gewaltpotential menschlichen Zusammenlebens anspricht und uns mit der fiktiven
Ermordung unverantwortlicher Global-Players konfrontiert, ist nicht
auszuschließen, dass sich Menschen mit traumatischen Vorerfahrungen durch die
Begegnung mit dem Kunstwerk beeinträchtigt fühlen und psychischen Schaden
erleiden. Auch könnten Kinder und Jugendliche mit dem Anblick der sexuellen
Gewalt auf den Wandbildern überfordert sein. Während meiner Kunstführungen sah
ich immer wieder, wie Eltern ihre Kinder eilig aus dem Raum führten, um ihnen
diesen Anblick zu ersparen, sodass ich dazu übergehen musste die
Teilnehmer*innen meiner Kunstführungen vor Betreten des Raumes vorzuwarnen. Die
unvorhergesehene Konfrontation mit sexueller und nichtsexueller Gewalt kann als
ein ethischer Mangel des Kunstwerks bezeichnet werden, der allerdings nur
bestimmte Besucher*innengruppen und Individuen betrifft. Die Gesamtaussage des
Kunstwerks ist dahingehend ethisch unbedenklich, dass es Gewalt als ein globales
Problem kritisiert, ästhetisch reflektiert und die Betrachter*innen zum
Nachdenken über ihre eigene Teilhabe an Gewaltprozessen anregt.
Regula Rickert im Juli 2021 Quellenangaben:
¹ Die d14 fand 2017 als Doppelausstellung in Kassel und Athen
statt. In Athen zeigte der Weitere
Literaturangaben:
https://www.deutschlandfunk.de/documenta-echo-sergio-zevallos-mensch-maschine-im-kampf.3259.de.html?dram:article_id=387260
(Stand
15.07.2021)
http://sergiozevallos.net/CV_2017_EN.pdf
(Stand
15.07.2021)
https://www.kunstfonds.de/aktuelles/foerderprogramm/details/sergio-zevallos-erhaelt-2018-den-hap-grieshaber-preis-der-vg-bild-kunst
(Stand
15.07.2021)
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